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Russlands Offensive bei Charkow ist weit mehr als nur ein militärischer Rückschlag für Kiew

Angesichts des blitzschnellen Vormarsches der russischen Streitkräfte auf die zweitgrößte Stadt der Ukraine mehren sich die Stimmen, die eine für Kiew bittere militärische Lage eingestehen.
Russlands Offensive bei Charkow ist weit mehr als nur ein militärischer Rückschlag für KiewQuelle: Sputnik © Viktor Antonyuk

Von Tarik Cyril Amar

In "Tschapajew", einem sowjetischen Filmklassiker aus dem Jahr 1934, der heute sowohl in der russischen wie auch in der ukrainischen Volkskultur noch sehr bekannt ist, wird in einer berühmten Schlüsselszene ein "psychologischer Angriff" geführt. In dem Film über Zeiten des Bürgerkrieges gegen die Weißgardisten geht es nicht um "Propaganda" oder einen "Informationskrieg", wie man heute vielleicht annehmen würde. Vielmehr handelt es sich um einen disziplinierten Vormarsch über ein sehr reales Schlachtfeld, der mit so viel Elan erfolgt, dass die Verteidiger nahezu in Panik verfallen in die Flucht geschlagen werden. In diesem alten sowjetischen Film wird der Angriff allerdings zurückgeschlagen.

Doch in der Realität können die Dinge anders verlaufen: Es gibt Anzeichen dafür, dass die jüngste russische Offensive in der nordöstlichen ukrainischen Region um Charkow zu einer psychologischen Niederlage für Kiew und dessen westliche Unterstützer werden könnte, auch wenn sie wahrscheinlich nicht in erster Linie auf eine solche Wirkung ausgelegt war.

Ohne Insiderwissen können wir die genauen Ziele nicht kennen, die man in Moskau mit dieser Operation zu verfolgen gedachte. Wir wissen jedoch, was in Bezug auf das Territorium und die eingenommenen Stellungen bisher erobert wurde, nämlich mehr als 100 Quadratkilometer und damit eine weiter wachsende Zahl von Dörfern. Nach Angaben ukrainischer Offiziere und Medien kämpfen die russischen Streitkräfte in der ukrainischen Stadt Woltschansk [nicht der gleichnamigen russischen am Ostrand des Uralgebirges], einem militärisch wichtigen Zentrum der Region. Es ist schwer vorherzusagen, wo dieser Vormarsch enden wird. In Anbetracht der – zumindest bisher – vergleichsweise kleinen Streitmacht, die an dieser Operation beteiligt ist, ist es jedoch unwahrscheinlich, dass die Stadt Charkow selbst, das zweitwichtigste städtische Zentrum der Ukraine, eingenommen werden soll. Sie könnte jedoch dazu dienen, diese Stadt wieder in die Reichweite der russischen Artillerie zu bringen, die dann für künftige und größere Offensiven eingesetzt werden könnte.

Viel wahrscheinlichere Ziele Russlands sind die Schaffung einer Pufferzone zum Schutz der russischen Region und der Stadt Belgorod sowie das Ausüben von Druck auf das ukrainische Militär, um dessen ohnehin schon erschöpften Ressourcen zu überfordern. Auch die russischen Streitkräfte, die neue Angriffe in weiteren Regionen (Sumy und Tschernigow) starten – und damit eine weitere, "dritte" Front eröffnen, wie eine britische Zeitung bereits schrieb –, würden in dieses Muster passen. Und die russischen Ziele müssen natürlich nicht statisch bleiben: Moskau kann seine Operationen mit einer Reihe von Zielen beginnen, diese aber revidieren, wenn sich neue Gelegenheiten ergeben, was in diesem Moment der Fall sein könnte.

Weniger leicht zu erraten sind die Auswirkungen des Angriffs auf die Gesamtheit der beiden Gegner Russlands: auf die Ukraine und den Westen – und hier insbesondere auf die Vereinigten Staaten. Es überrascht nicht, dass man sich sowohl in Kiew als auch in Washington, D.C. bemüht, "gute Miene zum bösen Spiel" zu machen. In beiden Hauptstädten wird versucht – höchstwahrscheinlich mit einem gewissen Maß an Koordination –, die Verluste und künftigen Risiken herunterzuspielen. Der US-Außenminister Antony Blinken hat Kiew einen Überraschungsbesuch abgestattet. Dabei räumte er ein, dass die Lage "schwierig" sei, und versuchte, die Hoffnung aufrechtzuerhalten, indem er versprach, dass die US-amerikanische Hilfe bald eintreffen und einen großen Unterschied machen werde. Das Problem ist, dass er das gar nicht wissen kann und dass es von Natur aus unwahrscheinlich ist. Und das aus zwei Gründen: Es gibt nicht genügend Hilfsmittel und es kann auch nicht genügend Hilfsmittel geben, da die Ukraine einen grundlegenden Mangel an Personal hat, der auch mit westlichen Waffen und Munition nicht behoben werden kann.

Auch der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij hat versucht, das nationale und internationale Publikum zu beruhigen. Er behauptet, dass sein Militär die russischen Pläne zur Ausdünnung der ukrainischen Verteidigung sehr wohl versteht, und er hat versprochen, dass andere wichtige Abschnitte der Front, beispielsweise in der Stadt Tschassow Jar im Donbass, nicht aufgegeben werden sollen. Aber was, wenn das gar keine Rolle spielt, ob Selenskij die russische Strategie durchschaut oder nicht? In Wirklichkeit bleibt ihm möglicherweise nur die Wahl zwischen den Erfolgen von Russland und den Verlusten der Ukraine. Das ist die Quintessenz einer Überdehnung. Laut CNN hat das ukrainische Militär bereits "klare Andeutungen" für weitere Rückzüge an der Donbass-Front gemacht.

Interessanter als dieses rationale Verständnis für eine sich verschärfende Krise auf dem Schlachtfeld sind Reaktionen, die sowohl offener als auch weniger optimistisch sind. Zum einen wird der russische Vormarsch nicht nur zu einer ukrainischen (und westlichen) Niederlage, sondern auch zu einem ukrainischen Skandal, über den der Westen in nunmehr ungewöhnlich offener Weise berichtet. In der Ukraine hat der rasche und fast widerstandslose Durchmarsch der Russen durch ein Gebiet, das eigentlich aus Befestigungen, Minenfeldern und Fallen bestehen sollte, zu Korruptionsvorwürfen geführt, die man nur als verräterisch bezeichnen kann. Die Ukrainskaja Prawda fragt als eigentlich traditioneller Verfechter der prowestlichen Stimmung und der patriotischen Mobilmachungsrhetorik, wo denn die Befestigungen sind. Sie weist darauf hin, dass die regionalen Behörden Millionen an fiktive Unternehmen gezahlt hätten, um etwas zu bauen, das offensichtlich entweder nicht vorhanden oder so mangelhaft ist, dass es genauso gut hätte lassen können.

Im Westen hat nicht zuletzt die BBC den Kommandeur Denis Jaroslawski einer ukrainischen Spezialaufklärungseinheit zu Wort kommen lassen, der sagt, er und seine Männer hätten gesehen, wie die russischen Truppen "einfach hereinspaziert" seien. Es fehlte nämlich Wichtiges, was sie zumindest hätte aufhalten können. Während ukrainische Beamte "behaupteten, dass Verteidigungsanlagen zu enormen Kosten gebaut würden", wie die BBC berichtete, kamen zwar die Kosten (und für irgendjemanden auch die Gewinne) zustande, aber die Verteidigungsanlagen nicht. "Entweder war es ein Akt der Fahrlässigkeit oder der Korruption", schlussfolgerte Jaroslawski. "Es war kein Versagen. Es war ein Verrat."

Dass die Kriegsanstrengungen der Ukraine sehr unter der enormen Korruption leiden, wäre nur für die besonders Naiven eine Neuigkeit. Das offene Anprangern von Korruption innerhalb und außerhalb der Ukraine deutet jedoch – nicht zum ersten Mal – auf die schwindende Fähigkeit des Selenskij-Regimes hin, die Geschichte entscheidend zu kontrollieren und auch zu gestalten. Die widersprüchlichen Äußerungen vom berüchtigten Kirill Budanow als Chef beim militärischen Geheimdienst der Ukraine zeugen in ähnlicher Weise zumindest von Verwirrung. Auf der einen Seite hat Budanow ein "düsteres Bild" gezeichnet, wie es die New York Times nannte. In einem Gespräch mit der US-amerikanischen Zeitung beschrieb er die Lage der Ukraine als "am Abgrund" stehend. Genauer gesagt – und das ist noch wichtiger – ging er sogar so weit, die schlimmste Achillesferse seines Landes offen zu benennen, nämlich den eklatanten Mangel solcher Reserven, die im Falle akuten Drucks an jedem beliebigen Teil der Frontlinie eingesetzt werden könnten. Budanow sagte zwar für die Zukunft eine "Stabilisierung" voraus, wies aber auch auf Risiken und Beschränkungen hin. In einer Rede, die der General über das ukrainische Fernsehen an sein heimisches Publikum richtete, betonte Budanow jedoch nur die "Stabilisierung" und versprach, dass die russischen Streitkräfte zumindest "im Prinzip" bereits eingedämmt seien.

Die russische Operation in der Region um Charkow ist eindeutig eine akute Schlacht innerhalb eines fortdauernden Krieges. Es wäre voreilig, die Ergebnisse vorherzusagen, zumindest im Detail. Wenn wir uns jedoch auf die wichtigsten Entwicklungen konzentrieren, sind zwei Dinge sicher: Erstens ergreift man in Moskau die Initiative und behält sie auch. Deshalb sind die russischen Streitkräfte in der Offensive, und deshalb entscheidet man in Moskau über den Sinn und Zweck von Angriffsoperationen, während die Ukraine und der Westen immer mehr nur auf die Reaktion beschränkt sind. Zweitens zeigen sowohl die Ukraine als auch der Westen trotz der mühsam aufrechterhaltenen Fassade von "Optimismus" und "Beharrlichkeit" offen Anzeichen von Nervosität, und zwar von einer Nervosität, die durch den russischen Druck hervorgerufen wird. Das ist im Moment die offensichtlichste Auswirkung der Operation bei Charkow, auch wenn sie vielleicht für manch einen im Verborgenen liegt.

Übersetzt aus dem Englischen

Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, er befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar.

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