Meinung

Für Europa läuft alles perfekt – Nur merken die Europäer nichts davon

Die düstersten Prognosen haben sich nicht bewahrheitet: Deutschland und Europa haben diesen Winter (fast) überstanden. Doch ist damit wirklich alles beim Alten? Welcher Preis für das Überleben eines Winters bezahlt wurde und was noch so alles in Rechnung gestellt wird, das ist die entscheidende Frage.
Für Europa läuft alles perfekt – Nur merken die Europäer nichts davonQuelle: AFP © JUSTIN TALLIS / AFP

Von Sergei Sawtschuk, RIA Nowosti

Der Winter 2023 nähert sich seinem kalendarischen Ende, und viele schadenfrohe Russen, die dem eigenen Land keinen Erfolg wünschen, haben bereits das übliche Gerede angestimmt: Europa habe ohne russisches Gas und andere Brennstoffe den Kälteeinbruch leicht und komfortabel überstanden. Diese Einschätzung hätte, wenn auch durch das extrem warme und milde Wetter begünstigt, ihre Berechtigung, wenn es da nicht ein "Aber" mit vielen Nullen gäbe.

Ende des vergangenen Jahres gaben die Länder der Eurozone und das Vereinigte Königreich laut Bruegel, einem internationalen Thinktank, historisch einmalige Summen aus, um die Auswirkungen der Abkehr von russischen Kohlenwasserstoffen und der darauf folgenden Energiekrise abzufedern. Bruegel schätzt, dass allein Deutschland 270 Milliarden Dollar ausgegeben hat, um durch den Winter zu kommen. Das formell nicht zur EU gehörende Großbritannien gab 103 Milliarden aus. Und selbst Norwegen, das über riesige eigene Gas- und Ölreserven verfügt und Russland auf dem Exportmarkt weitgehend verdrängt hat, musste 8,1 Milliarden US-Dollar aufwenden.

Es ist kein Geheimnis, wohin diese beträchtlichen Summen, die das ukrainische Finanzministerium leicht in Ohnmacht fallen lassen könnten, geflossen sind. Die Gelder wurden für die Senkung der Mehrwertsteuer auf Kraftstoffe verwendet, um den damit einhergehenden Preisanstieg bei allen wichtigen Warengruppen abzumildern und eine noch negativere Stimmung ihrer eigenen Bürger zu vermeiden. Die Druckerpresse der gemeinsamen europäischen Währung läuft auf Hochtouren, unter anderem, um den Anstieg der Strompreise im Einzelhandel irgendwie zu bremsen.

Ja, das Aus für die russischen Gasimporte hat nicht zu einem gleichzeitigen Zusammenbruch von Industrie und Wirtschaft geführt. Andere Lieferanten, vor allem aus den USA, nahmen den frei gewordenen Platz ein. Russisches Gas über eine Pipeline und zu einem niedrigen Preis ist bekanntlich böses Teufelswerk, während Flüssiggas aus Übersee und zu einem hohen Preis ein Geschenk des Himmels ist. So zumindest die Darstellung aus Washington. Da die Situation nicht allein durch US-Lieferungen gerettet werden konnte, pendelten europäische Abgesandten rastlos zwischen allen verfügbaren Gasexportländern hin und her, bettelten um zusätzliches Gas und kauften es manchmal auf die dreisteste Weise ihren Nachbarn unter der Nase weg. Ein Mangel an etwas, ob im Alltag oder auf dem Weltmarkt, führt immer zu einem garantierten Ergebnis: Die Verkäufer erhöhen gnadenlos die Preise, weil sie wissen, dass die Bedürftigen nirgendwohin können und ihr letztes Hemd für das begehrte Produkt geben werden.

Die Politiker der alten Welt behielten ihre Hemden und Anzüge, mussten aber dicke Bündel von Banknoten unter den gefährlich gekippten Schrank der Volkswirtschaften legen, im wahrsten Sinne des Wortes.

Erst die Gasverknappung und dann der kaskadenartige Anstieg der Gaspreise führten zu einer Verteuerung der Stromerzeugung. Während Gas die Grundlage bildet, ist Strom das Lebenselixier der modernen Welt. Der Preis für eine Megawattstunde wirkt sich direkt auf die Produktionskosten für alles auf der Welt aus, vom Backen eines Brotes bis zum Walzen einer Stahlrolle. Die berüchtigte Stromerzeugungseinheit, die vor einem Jahr etwa 120 Dollar gekostet hatte und dann auf einen Schlag in die Nähe von 300 Dollar kam, hat die Preise der meisten Güter des täglichen Lebens um ein Vielfaches erhöht, und zwar nicht nur die Werte in den Stromrechnungen. Aus irgendeinem Grund vergessen all die russlandfeindlichen Humoristen, die sich über das "Scheitern Russlands" amüsieren, diese in exakte Zahlen gefasste Trends auch nur zu erwähnen.

Mit Schweigen wird auch die Tatsache bedacht, dass das BIP Deutschlands, das nicht ein Jahr lang mit Sanktionen gewürgt wurde, im Jahr 2022 nur um 1,9 Prozent statt der erwarteten 2,9 gewachsen ist. Wobei das deutsche Wachstum im vierten Quartal des Jahres sogar erstmals einen negativen Wert erreichte: Die deutsche Wirtschaft begann zu schrumpfen statt zu wachsen. In Geld ausgedrückt, fehlten Berlin genau zweihundert Milliarden Dollar, zu denen noch die bereits erwähnten fast dreihundert Milliarden hinzukommen, die für Zahlungen an Verbraucher und  Industrie ausgegeben werden mussten.

Auf der anderen Seite des Ärmelkanals ist die Situation ähnlich. London hat sein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 0,4 Prozent mit einer Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP von 95,4 Prozent praktisch an den Ohren herbeigezogen. Zum Vergleich: In Russland macht die Staatsverschuldung 16,9 Prozent des BIP aus.

Der Leser wird an dieser Stelle mit den Schultern zucken: Na und? Die Europäer haben den Winter überstanden, es gab keinen Zusammenbruch der Wirtschaft oder des Realsektors.

Dies ist sowohl richtig als auch falsch.

Beginnen wir mit der Tatsache, dass kolossale Zuteilungen desselben Deutschlands bereits die größte Unzufriedenheit in seinen Nachbarländern hervorgerufen haben. Polen, das traditionell der größte Empfänger nicht rückzahlbarer Finanzzuteilungen aus dem EU-Haushalt ist, bei denen Berlin bekanntermaßen der Hauptgeldgeber ist, hat sich darüber empört. Die Regierung von Olaf Scholz wird offen in Frage gestellt und beschuldigt, nur das eigene Land zu retten und Geld vor anderen zu verstecken. Natürlich haben sich diese internen Streitigkeiten vor dem Hintergrund der ultraschallgesteuerten Russophobie-Hysterie noch nicht voll entfaltet, aber die Samen der Zwietracht sind bereits zu Boden gefallen, und sie werden reichlich keimen.

London, Berlin und andere, die es sich leisten können, Geld auszugeben, um die Auswirkungen der Energiekrise abzufedern, spielen nicht auf lange Sicht und setzen keinen kohärenten Plan um. Scholz, Rishi Sunak und ihre Kollegen sind Feuerwehrleute, die buchstäblich mit Tonnen von Geld verzweifelt die aufgerissenen Löcher stopfen. Angesichts der äußerst bescheidenen Leistung der Volkswirtschaften kann das dafür benötigte Geld nur aus der Druckerpresse kommen, die dafür immer weiter hochgeschaltet wird. Aufblasen der Staatsschulden, Erhöhung der ungesicherten Geldmenge, Auslösen von Inflation und steigenden Verbraucherpreisen sind schon jetzt spürbare Folgen.

Solche Taktiken helfen, eine schwierige Zeit zu überstehen, aber sie ersetzen zukunftsweisende Entwicklungsstrategien nicht. 

Die gemeinsame Wirtschaft der EU verfügt über eine große Sicherheitsmarge und Trägheit, sodass es offen gesagt töricht wäre, von einem baldigen Zusammenbruch zu sprechen. Es wäre andererseits auch leichtsinnig, die Trends zu ignorieren. Selbst die stärkste Dampflokomotive, die über die Schienen rast, wird langsamer und bleibt früher oder später stehen, wenn die Kohle nicht in den Ofen geworfen, sondern im Gegenteil aus ihm herausgeschaufelt wird.

Bald ist es ein Jahr her, dass die militärische Spezialoperation begann, und Russlands Wirtschaft trotzt allen Sanktionen und Schranken. Sie scheint heute in einem eindeutig besseren Zustand zu sein als diejenigen Europas und der USA. So sehr, dass der Internationale Währungsfonds in seinem jüngsten Bericht ein Wachstum der russischen Wirtschaft bis Ende 2023 anstelle des zuvor erwarteten Rückgangs vorhersagt. Ein geringes Wachstum zwar, aber immer noch größer als das von Deutschland oder dem Vereinigten Königreich beispielsweise. Wer zuletzt lacht ...

Übersetzung aus dem Russischen. Der Text erschien am 14. Februar 2022 auf ria.ru. 

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